Hizb ut-Tahrir-nahe Gruppierungen in Deutschland. Identitärer Islamismus als Herausforderung?

Dieser Artikel erschien im „Jahrbuch Extremismus & Demokratie 2024“

Nach der militärischen Niederlage des Islamischen Staates (IS) 2019 in Syrien und dem Irak wähnten viele den Islamismus insgesamt im Niedergang. Auch der Sieg der afghanischen Taliban im August 2021 schien an dieser Perspektive nur kurzzeitig etwas zu verändern. Schlagartig wechselte die Wahrnehmung jedoch mit dem Massaker der HAMAS am 7. Oktober 2023 in Israel und dem Demonstrationsgeschehen infolge des dadurch entfesselten Krieges in Gaza. Auf einer „Pro-Palästina-Demo“ im November in Essen tauchten explizit Forderungen nach einem „Kalifat“ auf. Unter dem Vorwand, gegen Islamfeindlichkeit demonstrieren zu wollen, forderten der Hizb ut-Tahrir (HuT) nahestehenden Islamisten im Februar 2024 in Hamburg die Errichtung eines „Kalifats“ als Lösung für „die Probleme der Muslime“, was für bundesweite Empörung sorgte. Wie der „KN:IX-Report“ 2023 des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus (KN:IX) berichtet, ist die Präventionsarbeit neben dem Salafismus hauptsächlich mit Ansprachen aus dem ideologischen Feld der HuT konfrontiert.[1] Häufig fällt in diesem Zusammenhang der Begriff „identitärer Islamismus“.[2] Der folgende Beitrag analysiert die ideologischen Grundsätze dieser identitär-islamistischen Gruppierungen Generation Islam (GI), Realität Islam (RI) und Muslim Interaktiv (MI), fragt nach thematischen Schwerpunktsetzungen in Agitation und Propaganda und erörtert die Frage nach dem Nährboden dieser Strömung. 

1.             Die Hizb ut-Tahrir

1.1. Entstehung und Ideologie

Die HuT (dt. „Partei der Befreiung“) wurde 1953 in Ost-Jerusalem unter der Führung des aus der Nähe von Haifa stammenden palästinensischen Rechtsgelehrten Taqi al-Din al-Nabhani gegründet. Die Gründung geschah, wie bei anderen islamistischen Bewegungen auch, unter dem Eindruck des Zusammenbruches des Osmanischen Reiches und der 1924 erfolgten offiziellen Abschaffung des islamischen Kalifats. Für al-Nabhani und die HuT war der arabisch-israelische Konflikt seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 von zentraler Bedeutung. Als Reaktion auf diese verschiedenen Krisensituationen und die negative Wahrnehmung des Ist-Zustandes der mehrheitlich muslimischen Länder, entwarf al-Nabhani ein Programm zur Errichtung eines transnationalen „Kalifats“.

Ein kurzer Exkurs zum Begriff scheint in diesem Zusammenhang geboten. Die obersten religiösen Quellen des Islams, Koran und Hadithe, enthalten kein islamisches Staatskonzept. Das arabische Wort für Kalifat, khilafa[3], wird von der Wortwurzel kha-la-fa, „nachfolgen“, abgeleitet. Im Koran kommt der Begriff Kalif, arab. khalifa (Pl. khulafa‘) nur an zwei Stellen vor. In Sure 7 Vers 69 ist von den „Erben [weiterlesen…]


[1] Vgl. Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX). Herausforderung, Bedarfe und Trends im Themenfeld. Report 2023, Berlin 2023, S. 11 ff.

[2] Vgl. Volker Siefer, Jung, Muslimisch und identitär, unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/islamismus-aktivismus-kopftuchverbot-identitaer/komplettansicht, 9. September 2018 (3. August 2024); Marvin Hild, Muslimisch identitär?, in: Demokratie-Dialog 11 (2022), S. 46–53.

[3] Bei der HuT meist Khilafah.

Rezension – Pabst, Martin: Arabischer Frühling ohne Sommer? Die schwierige Neuordnung einer Großregion

Dezember 2020/Januar 2021 jährte sich der Beginn des „Arabischen Frühlings“ zum zehnten Mal. Pünktlich dazu erschien am 13. Januar 2021 das Buch „Arabischer Frühling ohne Sommer?“ des Münchner Politikwissenschaftlers und Publizisten Martin Pabst. Auf 319 Seiten widmet sich dieser der komplexen Thematik des Umbruchs in der MENA-Region, welchen er von Beginn an teils vor Ort mitver folgte. Herausgekommen ist dabei ein Werk, das in acht Kapiteln Überblicke über Geschichte, Wirtschaft, Kultur, Religion und Politik der arabischen Staaten liefert [weiterlesen…]

Rezension – Jaraba, Mahmoud: Salafismus

Für sein Werk wertete Mahmoud Jaraba zwischen 2015 und 2017 Freitagspredigten einer salafistischen Moschee in Bayern, zahlreiche Interviews und Fachliteratur aus.

Internationalen Studien zufolge sind wichtige Faktoren, die eine Radikalisierung begünstigten, familiäre und gesellschaftliche Verwerfungen (Diskriminierung, Arbeitslosigkeit), seelische Stö- rungen, kollektive Traumata (Kriege, brutale Gewalterfahrungen) und Social Media. Der Terminus „Salafismus“ leitet sich ab von „al-salaf al-salih“ (fromme Altvordere), die ersten drei Generationen des Islam, die zu einem goldenen Zeitalter verklärt werden. Um die moderne Bewegung [weiterlesen…]

Lipka-Tataren und Karaim: Osteuropas turkstämmige Muslime und Juden

Qaraylar

Sie heißen Achmatowicz, Chazbijewicz und Musatowicz, Besikowitsch oder Firkovičius. Es sind alte Familiennamen aus Osteuropa, von Angehörigen kleiner muslimischer und jüdischer Minderheiten turkstämmiger Herkunft, die bis heute auf dem Gebiet des heutigen Litauen, Polen, Weißrussland und der Ukraine leben. Seit mehreren Jahrhunderten gehören die muslimischen Lipka-Tataren und die jüdischen Karaim (Karaimer, Karäer) zum festen kulturellen Bestandteil Osteuropas. Eine zusammenfassende Darstellung von Geschichte, Kultur und Religionen der Lipka-Tataren und Karaim für abrahamicstudies.com. „Lipka-Tataren und Karaim: Osteuropas turkstämmige Muslime und Juden“ weiterlesen

IQSA Corona Qur’an Seminars on Zoom (#IQSAZoom)

Die „International Qur’anic Studies Association“ (IQSA) führt derzeit Webinare mit international renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Islamwissenschaft durch. Die Vorträge sind auch im Nachhinein auf YouTube oder on demand einsehbar.

Avatar von iqsawebInternational Qur'anic Studies Association

IQSA is now entering its fourth week of sponsorship for #IQSAZoom seminars designed to bring scholars and students of the Qur’an together at a time when many are in social isolation. These seminars are part of IQSA’s larger mission to advance “Cutting edge, intellectually rigorous, academic research on the Qurʾan” and to be “a bridge between different global communities of Qurʾanic scholarship.”  Seminars are open to the public and all are welcome to join the meetings, although at this time we strongly encourage you to take a moment to join IQSA/renew your membership.

#IQSAZoom seminars, held at 11am EDT/New York time, involve both a lecture and time for open discussion. To register for the seminars (free but required) visit https://theology.nd.edu/…/world-religions-world-c…/seminars/. Seminars will be recorded and posted to IQSA’s youtube channel (IQSA Online). We encourage all to continue the discussion on social media using the hashtag #IQSAZoom.

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„Betet in Euren Häusern!“ – Der islamische Gebetsruf in Zeiten von Corona

 


Als Folge des Coronavirus rufen zahlreiche Muezzine in muslimischen Ländern die Gläubigen dazu auf, zuhause zu beten. Es ertönen alternative Gebetsrufe (aḏān), wie zum Beispiel „aṣ-ṣalātu fī buyūtikum“ (wörtl. „Das Gebet in Euren Häusern) bzw. „aṣ-ṣalātu fī riḥālikum“ (wörtl. „Das Gebet in Euren Wohnungen/Häusern/Zelten) und andere Varianten selbigen Inhalts. Bei nicht wenigen Muslimen sorgte das für Irritationen und führte zu teils heftiger Kritik. Dabei ist diese Notfallmaßnahme gar nicht aus der Luft gegriffen, sondern stützt sich auf Hadithe (Prophetenüberlieferungen) und historische Beispiele. „„Betet in Euren Häusern!“ – Der islamische Gebetsruf in Zeiten von Corona“ weiterlesen

Relaunch: DerOrient.com heißt jetzt Abrahamic Studies

Während zahlreiche Menschen den Begriff „Orient“ noch völlig kritiklos verwenden, hat er für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen inzwischen sehr negativen Beigeschmack. Zu sehr wurde der Begriff von kolonialistischem und orientalistischem Denken geprägt, birgt Exotisierung, Eurozentrismus und Stereotypisierung mit politisch gravierenden Folgen für Menschen in den Regionen des sog. „Orients“ und auch hierzulande. Daher habe ich mich nach langem Überlegen und über 7 Jahren DerOrient.com dazu entschlossen, diesen Blog umzubenennen.

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„Der Islam ist ein Krebsgeschwür“ – Muslimfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus als akute Bedrohung

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Extremistische und gewalttätige Feindlichkeit gegenüber Muslimen ist in Deutschland ein massives Problem, was noch bei weitem nicht ausreichend Aufmerksamkeit bekommt. Es geht dabei um einen kontrovers diskutierten Themenkomplex, der mit Begriffen wie „Islamophobie“, „Islamfeindlichkeit“, „Muslimfeindlichkeit“ oder „antimuslimischer Rassismus“ wiedergegeben wird. Begriffe bergen immer eine gewisse Problematik. Sind sie evtl. zu ungenau, irreführend, ideologisch aufgeladen? Welche Begrifflichkeiten sind geeignet? Wie argumentieren extremistische Muslimfeinde und was unterscheidet Islamkritik von Muslimfeindlichkeit? Und was ist an dieser Muslimfeindlichkeit so akut gefährlich? „„Der Islam ist ein Krebsgeschwür“ – Muslimfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus als akute Bedrohung“ weiterlesen

Für eine interreligiöse Allianz gegen Extremismus und Terrorismus!

hands-1445472_1280Und wieder ein Anschlag mit Zig Toten, zu denen sich eine extremistisch-islamistische Gruppierung bekannt hat. Ob bei Charlie Hebdo, Bataclan, dem Istanbul Flughafen oder Sri Lanka, schnell ist die Ursache klar: „Der Islam“. Die Gemüter in den sozialen Netzwerken sind zurecht erhitzt, doch sollten wir uns auch sachlich damit beschäftigen, wie wir in Zukunft gegen Terroristen und vor allem deren Ideologie vorgehen können.

Eine wirksame Waffe gegen extremistischen Ideologen sind interreligiöser Dialog und eine interkonfessionelle Allianz aus Juden, Muslimen, Christen und Nichtglaubenden. Für viele mag dies zunächst wie realitätsfernes „Gutmenschen“-Gerede wirken, doch steckt dahinter eine konkrete Überlegung nach intensiver Beschäftigung mit Islamismus und Dschihadismus und deren ideologischen Strippenziehern. „Für eine interreligiöse Allianz gegen Extremismus und Terrorismus!“ weiterlesen

Das Konzept „Sexualität“ im Islam

Prof. Dr. Patrick Franke hielt im Zuge der Konferenz „The Concept of Person and the Concept of Sexuality in Judaism, Christianity and Islam“ (13.-15. Februar 2019) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg einen Vortrag zur Geschichte der ganz unterschiedlichen Sichtweisen auf Sexualität im Islam. Diese haben sich über die Jahrhunderte teils drastisch verändert.