„Betet in Euren Häusern!“ – Der islamische Gebetsruf in Zeiten von Corona

 


Als Folge des Coronavirus rufen zahlreiche Muezzine in muslimischen Ländern die Gläubigen dazu auf, zuhause zu beten. Es ertönen alternative Gebetsrufe (aḏān), wie zum Beispiel „aṣ-ṣalātu fī buyūtikum“ (wörtl. „Das Gebet in Euren Häusern) bzw. „aṣ-ṣalātu fī riḥālikum“ (wörtl. „Das Gebet in Euren Wohnungen/Häusern/Zelten) und andere Varianten selbigen Inhalts. Bei nicht wenigen Muslimen sorgte das für Irritationen und führte zu teils heftiger Kritik. Dabei ist diese Notfallmaßnahme gar nicht aus der Luft gegriffen, sondern stützt sich auf Hadithe (Prophetenüberlieferungen) und historische Beispiele.

Hadithe zur temporären Veränderung des Gebetsrufes

Auch zu Zeiten Muḥammads wurde der aḏān in bestimmten Situationen verändert. So überliefert ʿAbd Allāh b. al-Ḥāriṯ im großen Kompendium Ṣaḥīḥ al-Buḫārī (Nr. 599):

حَدَّثَنَا مُسَدَّدٌ، ‏‏‏‏‏‏قَالَ:‏‏‏‏ حَدَّثَنَا حَمَّادٌ، ‏‏‏‏‏‏عَنْ أَيُّوبَ، ‏‏‏‏‏‏وَعَبْدِ الْحَمِيدِ صَاحِبِ الزِّيَادِيِّ، ‏‏‏‏‏‏وَعَاصِمٍ الْأَحْوَلِ، ‏‏‏‏‏‏عَنْ عَبْدِ اللَّهِ بْنِ الْحَارِثِ، ‏‏‏‏‏‏قَالَ:‏‏‏‏ „خَطَبَنَا ابْنُ عَبَّاسٍ فِي يَوْمٍ رَدْغٍ، ‏‏‏‏‏‏فَلَمَّا بَلَغَ الْمُؤَذِّنُ حَيَّ عَلَى الصَّلَاةِ، ‏‏‏‏‏‏فَأَمَرَهُ أَنْ يُنَادِيَ الصَّلَاةُ فِي الرِّحَالِ، ‏‏‏‏‏‏فَنَظَرَ الْقَوْمُ بَعْضُهُمْ إِلَى بَعْضٍ، ‏‏‏‏‏‏فَقَالَ:‏‏‏‏ فَعَلَ هَذَا مَنْ هُوَ خَيْرٌ مِنْهُ وَإِنَّهَا عَزْمَةٌ“.

„ʿAbd Allāh b. al-Ḥāriṯ überlieferte: Einmal an einem regnerischen, schlammigen Tag hielt Ibn ʿAbbās in unserer Gegenwart eine Predigt, und als der Muezzin den Gebetsruf ‚kommt zum Gebet‘ rief, befahl Ibn ʿAbbās ihm zu rufen: ‚Betet in euren Häusern‘. Die Menschen begannen, sich gegenseitig überrascht anzusehen. Ibn ʿAbbās sagte: ‚Es wurde von einem gemacht, der viel besser war als ich und es ist eine Erlaubnis.“

Zudem gibt es im selben Kompendium den Hadith Nr. 874, überliefert von b. Sīrīn:

حَدَّثَنَا مُسَدَّدٌ ، قَالَ : حَدَّثَنَا إِسْمَاعِيلُ ، قَالَ : أَخْبَرَنِي عَبْدُ الحَمِيدِ ، صَاحِبُ الزِّيَادِيِّ ، قَالَ : حَدَّثَنَا عَبْدُ اللَّهِ بْنُ الحَارِثِ ابْنُ عَمِّ مُحَمَّدِ بْنِ سِيرِينَ ، قَالَ : ابْنُ عَبَّاسٍ لِمُؤَذِّنِهِ فِي يَوْمٍ مَطِيرٍ : إِذَا قُلْتَ أَشْهَدُ أَنَّ مُحَمَّدًا رَسُولُ اللَّهِ ، فَلاَ تَقُلْ حَيَّ عَلَى الصَّلاَةِ ، قُلْ : صَلُّوا فِي بُيُوتِكُمْ ، فَكَأَنَّ النَّاسَ اسْتَنْكَرُوا ، قَالَ : فَعَلَهُ مَنْ هُوَ خَيْرٌ مِنِّي ، إِنَّ الجُمْعَةَ عَزْمَةٌ وَإِنِّي كَرِهْتُ أَنْ أُحْرِجَكُمْ فَتَمْشُونَ فِي الطِّينِ وَالدَّحَضِ

„… An einem regnerischen Tag sagte Ibn ʿAbbās zu seinem Muezzin: Nachdem du gesagt hast: ‚Ich bezeuge, dass Muḥammad Gottes Gesandter ist‘, sag ‚Kommt zum Gebet‘, sondern sag  ‚Betet in Euren Häusern‘. Aber das Volk mochte es nicht. Ibn ʿAbbās sagte: ‚Es wurde von einem gemacht, der viel besser war als ich Zweifellos ist das Freitagsgebet obligatorisch, aber ich möchte Euch nicht unter Druck setzen, indem ich Euch in Schlamm und Matsch herumlaufen lasse.“

Im Ṣaḥīḥ Muslim findet sich Hadith Nr. 1173, überliefert von b. ʿUmar:

حَدَّثَنَا مُحَمَّدُ بْنُ عَبْدِ اللَّهِ بْنِ نُمَيْرٍ ، حَدَّثَنَا أَبِي ، حَدَّثَنَا عُبَيْدُ اللَّهِ ، حَدَّثَنِي نَافِعٌ ، عَنِ ابْنِ عُمَرَ ، أَنَّهُ نَادَى بِالصَّلَاةِ فِي لَيْلَةٍ ذَاتِ بَرْدٍ وَرِيحٍ وَمَطَرٍ ، فَقَالَ فِي آخِرِ نِدَائِهِ : أَلَا صَلُّوا فِي رِحَالِكُمْ ، أَلَا صَلُّوا فِي الرِّحَالِ ، ثُمَّ قَالَ : إِنَّ رَسُولَ اللَّهِ صَلَّى اللَّهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَ كَانَ يَأْمُرُ الْمُؤَذِّنَ ، إِذَا كَانَتْ لَيْلَةٌ بَارِدَةٌ ، أَوْ ذَاتُ مَطَرٍ فِي السَّفَرِ ، أَنْ يَقُولَ : أَلَا صَلُّوا فِي رِحَالِكُمْ وَحَدَّثَنَاهُ أَبُو بَكْرِ بْنُ أَبِي شَيْبَةَ ، حَدَّثَنَا أَبُو أُسَامَةَ ، حَدَّثَنَا عُبَيْدُ اللَّهِ ، عَنْ نَافِعٍ ، عَنِ ابْنِ عُمَرَ ، أَنَّهُ نَادَى بِالصَّلَاةِ بِضَجْنَانَ ، ثُمَّ ذَكَرَ بِمِثْلِهِ ، وَقَالَ : أَلَا صَلُّوا فِي رِحَالِكُمْ ، وَلَمْ يُعِدْ ثَانِيَةً أَلَا صَلُّوا فِي الرِّحَالِ مِنْ قَوْلِ ابْنِ عُمَرَ

„(Abgekürzt) … ‚Betet in Euren Wohnungen‘. Dann sagte er: ‚Wenn es eine kalte, regnerische Nacht war, befahl der Gesandte Gottes den Muezzin zu rufen ‚Betet in Euren Wohnungen.'“

Auch im Sunan Abī Dāwūd wird der Hadith Nr. 932, überliefert von b. Sīrīn aufgeführt:

حَدَّثَنَا مُسَدَّدٌ ، حَدَّثَنَا إِسْمَاعِيلُ ، أَخْبَرَنِي عَبْدُ الْحَمِيدِ ، صَاحِبُ الزِّيَادِيِّ ، حَدَّثَنَا عَبْدُ اللَّهِ بْنُ الْحَارِثِ ، ابْنِ عَمِّ مُحَمَّدِ بْنِ سِيرِينَ ، أَنَّ ابْنَ عَبَّاسٍ ، قَالَ لِمُؤَذِّنِهِ فِي يَوْمٍ مَطِيرٍ : إِذَا قُلْت : أَشْهَدُ أَنَّ مُحَمَّدًا رَسُولُ اللَّهِ ، فَلَا تَقُلْ : حَيَّ عَلَى الصَّلَاةِ ، قُلْ : صَلُّوا فِي بُيُوتِكُمْ ، فَكَأَنَّ النَّاسَ اسْتَنْكَرُوا ذَلِكَ ، فَقَالَ : قَدْ فَعَلَ ذَا مَنْ هُوَ خَيْرٌ مِنِّي ، إِنَّ الْجُمُعَةَ عَزْمَةٌ ، وَإِنِّي كَرِهْتُ أَنْ أُخْرِجَكُمْ فَتَمْشُونَ فِي الطِّينِ وَالْمَطَرِ

“ … Ibn Sīrīn sagte: Ibn ‚ʿAbbās sagte zu seinem Muezzin an einem regnerischen Tag: Wenn du sagst ‚Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist‘, sag nicht: ‚Kommt zum Gebet‘, sondern sag: ‚Betet in euren Häusern‘. Die Menschen waren über diese Ankündigung überrascht. Er sagte: „Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist: Einer, der besser war als ich, hat es getan. Das Freitagsgebet ist eine obligatorische Pflicht. Aber ich möchte Euch nicht in Bedrängnis bringen, damit Ihr in Schlamm und Regen gehen könntet.“

Analogieschluss zum Coronavirus

In den Hadithen selbst geht es natürlich nicht um eine Viruspandemie, sondern um Regen. Das mag zunächst verwundern, doch ist die Region um Mekka eine Gegend, in der es kaum regnet. Plötzliche Regengüsse können in Wüstenregionen katastrophale Folgen nach sich ziehen, führen häufig zu reißenden Sturzbächen, gar zur temporären Bildung großer Flüsse. Es geht also um eine Bedrohungssituation für die menschliche Gesundheit und/oder Sicherheit.

Vierte Rechtsquelle im traditionellen islamischen Recht ist der „Idschtihad“ (DMG iǧtihād (Anstrengung für eine eigene Urteilsfindung) bzw. qiyās (Analogieschluss). Diese Rechtsquelle ist in diesem Fall zur Anwendung gekommen, denn auch der Coronavirus stellt eine enorme Bedrohung für die Gesundheit und/oder Sicherheit der Gläubigen dar. Der aus Sunan Abī Dāwūd zitierte Hadith umfasst sogar das Freitagsgebet, obligatorisch für jeden Muslim. Und auch hier wird klar: Sicherheit geht vor. Wenn jetzt Freitagsgebete abgesagt und auch allgemein zum Gebet in den eigenen Häusern und Wohnungen aufgerufen wird, dann handelt es sich zwar um etwas sehr Ungewöhnliches, doch keine tatsächliche Neuerung. Der alternative Gebetsruf fußt dabei auf einem durchaus traditionellen aber dynamischen islamischen Rechtsverständnis.

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