Das islamische Kopftuch (auch orthodoxe Jüdinnen tragen eines) ist das derzeit wohl umstrittenste Kleidungsstück Deutschlands. die Debatte darüber hat den Bereich der Sachlichkeit längst verlassen. Dies führt auch dazu, dass objektive innerislamische Debatten über religiöse Werte und Normen erschwert geführt werden können, da sie so eine zu politische Komponente aufgezwungen bekommen. Dabei gibt es muslimische Gelehrte, die in der Geschichte ganz unterschiedlich argumentiert haben. Der zum Islam konvertierte Muhammad Asad (vorher jüdisch, Leopold Weiß) aus Österreich-Ungarn befasste sich ausführlich mit der Frage, ob der Hidschab für die muslimische Frau eine Pflicht sei. Ein Beitrag für eine innerislamische Debatte.
Das Kopftuch im Koran
Die wichtigsten Koranverse im Bezug auf die Verschleierung muslimischer Frauen sind Q 24:31 „Und sag den gläubigen Frauen, ihren Blick zu senken und auf ihre Keuschheit zu achten, und nicht ihre Reize (in der Öffentlichkeit) über das hinaus zu zeigen, was davon (schicklicherweise) sichtbar sein mag; darum sollen sie ihre Kopfbedeckungen über ihre Busen ziehen. Und sie sollen nicht (mehr von) ihren Reizen zeigen außer ihren Ehemännern oder ihren Vätern oder den Vätern ihrer Ehemänner oder ihren Söhnen oder den Söhnen ihrer Ehemännder oder ihren Brüdern oder den Söhnen ihrer Brüder oder den Söhnen ihrer Schwestern oder ihren Frauen oder jenen, die sie rechtmäßig besitzen, oder solchen männlichen Dienern, die ohne jegliches geschlechtliches Verlangen sind, oder Kindern, die der Blöße der Frauen noch ungewahr sind; und sie sollen nicht (beim Gehen) ihre Beine schwingen, um damit Aufmerksamkeit auf ihre verborgenen Reize zu lenken. Und (immer), o ihr Gläubigen – alle von euch -, wendet euch in Reue zu Gott, auf daß ihr einen glückseligen Zustand erlangen möget“488 (wa-qul li-l-muʾmināti yaġḍuḍna min abṣārihinna wa-yaḥfaẓna furūǧahunna wa-lā yubdīna zīnatahunna illā mā ẓahara minhā wa-la-yaḍribna bi-ḫumurihinna ʿalā ǧuyūbihinna wa-lā yubdīna zīnatahunna illā li-buʿūlatihinna aw abāʾihinna aw abāʾi buʿūlatihinna aw abnāʾihinna aw abnāʾ buʿūlatihinna aw iḫwānihinna aw banī iḫwānihinna aw banī aḫawātihinna aw nisāʾihinna aw mā malakat aymānuhunna awi t-tābiʿīna ġayri ūlī l-ʾirbati mina r-riǧāli awi ṭ-ṭifli llaḏīna lam yaẓharū ʿalā ʿawrāti nnisāʾi wa-lā yaḍribna bi-ʾarǧulihinna li-yuʿlama mā yuḫfīna min zīnatihinna wa-tūbū ilā Llāhi ǧamīʿan ayyuha l-muʾminūn laʿllakum tufliḥūn) und Q 33:59 „O Prophet! Sage deinen Ehefrauen und deinen Töchtern wie auch allen (anderen) gläubigen Frauen, daß sie (in der Öffentlichkeit) etwas von ihren äußeren Gewändern über sich ziehen sollen: dies wird eher förderlich sein, daß sie (als anständige Frauen) anerkannt und nicht belästigt werden. Aber (überdies,) Gott ist fürwahr vielvergebend, ein Gnadenspender!“489 (yā ayyuhā n-nabbīyu qul lli-ʾazwāǧika wa-banātika wa-nisāʾi l-muʾminīna yudnīna ʿalayhinna min ǧalābībihinna ḏālika adnā an yuʿrifna fa-lā yuʾḏīna wa-kāna Llāhu ġufūran raḥīman). Interessanterweise ist hier nie von einem Hidschab die Rede, welcher im koranischen Kontext einen Vorhang darstellt und nicht das traditionelle Kopftuch, das ḫimār genannt wird.
Das Kopftuch in Asads Koranexegese (Tafsīr)
Muhammad Asad widmet ersterem Vers gleich vier Erklärungspunkte in seinem Tafsīr, woran deutlich erkennbar wird, wie wichtig ihm dieses Thema ist. Die Aufforderung auf Keuschheit zu achten und den Blick zu senken sei für beide Geschlechter gleichermaßen bestimmt und der entscheidende Aspekt von Q 24:31. Im Gegensatz zu den traditionellen Exegeten sieht Muhammad Asad in der Passage „was davon (schicklicherweise) sichtbar sein mag“ (illā mā ẓahara minhā), die die Körperregionen meint, die nach islamischer Auffassung in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürften, eine „absichtliche Unbestimmtheit dieser Wendung (, die) all den zeitgebundenen Veränderungen Raum geben soll, die zum moralischen und gesellschaftlichen Wachstum des Menschen notwendig sind“.
Die Aufforderung in Q 33:59, die Frauen sollten ihren ḫimār über den Busen ziehen, bedeute schlichtweg, dass die Frau ihre Brüste bedecken solle, nicht aber, dass sie notwendigerweise einen ḫimār tragen müsse. Der ḫimār sei als Kopfbedeckung bereits in vorislamischer Zeit als modisches Kleidungsstück getragen worden. Der Fokus liege aber demnach nicht auf der Bedeckung der Haare, sondern auf einer Verdeckung des Decolletés. Die Passage „O Prophet! Sage deinen Ehefrauen und deinen Töchtern wie auch allen (anderen) gläubigen Frauen, daß sie (in der Öffentlichkeit) etwas von ihren äußeren Gewändern über sich ziehen sollen: dies wird eher förderlich sein, daß sie (als anständige Frauen) erkannt und nicht belästigt werden“interpretiert Asad als zeitgebunden und auf den historischen Kontext der Gesellschaft zur Zeit des Propheten Muḥammad bezogen. Darauf würden gerade der Prophet als direkter Adressat des Verses und die Formulierung „von ihren äußeren Gewändern“ (min ǧalābībihinna) hindeuten. Asad schreibt nicht explizit, dass die muslimische Frau kein Kopftuch tragen müsse, doch ist dies eine logische Schlussfolgerung aus seinem Tafsīr. In der Dokumentation Der Weg nach Mekka (2008) bestätigt der ehemalige saudische Ölminister Aḥmad Zakī Yamānī diese Auslegung des Korantextes durch Asad und schließt sich dieser Interpretation an.
Interpretationspluralität anerkennen
Asads Positionen zum Kopftuch stehen konträr zu klassischen Exegeten und dem konservativen Mainstream, obwohl er selbst durchaus konservativ war. Gerade in der Betonung der Zeitgebundenheit diesbezüglicher Koranpassagen verdeutlicht Asad die Möglichkeit der Dynamik des islamischen Rechts, sogar in dieser Thematik, und eine quasi gottgewollte Offenheit der Interpretationsmöglichkeiten. Geht man nach Asad, so handelt es sich beim Hidschab mehr um ein kulturelles Erbe, als um eine tatsächliche religiöse Pflicht. Dies heißt allerdings nicht, dass Frauen heutzutage dies nicht trotzdem als solche interpretieren können.
Wichtig bei jeglicher Debatte wäre heutzutage die gleichwertige Anerkennung anderer Interpretationen und ein Ende der Hysterie, welches das Kopftuch dämonisiert und Frauen, die sich selbst bewusst dazu entscheiden, als „rückständig“ und „unterdrückt“ brandmarken. Das ist nämlich falsch. Doch bringen Auslegungen, wie die von Muhammad Asad, durchaus frischen Wind in die moderne Koraninterpretation.
Interessante Position von Muhammad Asad. Was übrigens allgemein für solche Kleidungsdebatten wichtig ist, ist die Definition von ʿAura – https://de.wikipedia.org/wiki/ʿAura
Auch da zeigt sich die Pluralität von Rechtspositionen. Benutzt Asad diesen Begriff?
In dem Zusammenhang nutzt er ihn nicht. Ich habe ihn auch noch in keinem anderen Zusammenhang bei ihm gelesen. Wäre aber durchaus interessant, was er im Allgemeinen zur ‚Aura sagt.
Offenbar sieht er darin nur Bescheidenheit in der Kleidung und keinen Sex außerhalb der Ehe, S.737, Punkt 36 http://muhammad-asad.com/Message-of-Quran.pdf
Danke in jedem Fall für den Artikel, sehr interessant!
Sehr guter Artikel – vielen Dank! Und das: „auch orthodoxe Jüdinnen tragen eines“, ist absolut richtig. Davon kann man sich jederzeit überzeugen, wenn man zum Beispiel durch die religiösen Viertel Jerusalems oder durch religiöse Siedlungen in der Westbank geht oder fährt.