
Nach zahllosen Anschlägen extremistischer Terrorgruppen und jahrelanger Berichterstattung verbinden die meisten Menschen die Weltreligion Islam automatisch mit Szenen von Attentaten, Extremisten wie bin Laden, al-Qaida und dem IS. Viele sehen in der Religion die Ursache für die Gewalt und können den Satz „Das hat mit dem Islam nichts zu tun“ nicht mehr hören. Doch in welchem Verhältnis stehen Terrorismus und der Mainstream der islamischen Religion?
Die wichtigsten Grundsätze des Islam
Fragt man Gelehrte was die zentralen Punkte im Islam sind, so antworten diese „die fünf Säulen des Islam“. Die fünf Säulen gelten als die Kernpunkte für jeden gläubigen Muslim. Diese umfassen:
- Das Glaubensbekenntnis (Es gibt keine Gottheit außer Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes) (arab. Schahada)
- Das fünfmalige Gebet (arab. Salat)
- Almosen/Wohltätigkeit (arab. Zakat)
- Fasten während des Ramadan (arab. Saum)
- Pilgerfahrt nach Mekka (arab. Hadsch)
Bei diesen fünf Säulen erscheint nichts aus unserer rechtsstaatlichen Sicht Problematisches. Keine der Säulen beinhaltet Gewalt oder Krieg gegen Andersgläubige. Wenn das die zentralen Säulen des Islam sind, warum gibt es dann so etwas wie al-Qaida? Was sind deren Grundlagen? Ist es etwa der Koran?
Dschihad im klassischen islamischen Recht
Kriege waren über die Jahrtausende der Menschheit hinweg Realität. So ist es logische Konsequenz, dass auch im islamischen Recht ein Kriegsrecht verankert wurde. In der Gelehrsamkeit wird hier zwischen großem und kleinem Dschihad unterschieden. Das Wort Dschihad selbst bedeutet zunächst nur „Anstrengung“ und nicht etwa „Heiliger Krieg“. Nur der „kleinere Dschihad“ gilt als der bewaffnete, was angesichts der heutigen Gewalt bemerkenswert ist.
In der Geschichte gab es dabei offensive und defensive Auslegungen über die Erlaubnis zum bewaffneten Dschihad. In der Frühzeit der Abbasiden-Dynastie (ab 750) wurde ein bewaffneter Dschihad dabei als Mittel zur Ausbreitung des eigenen Glaubens gesehen. Ob dabei die Religion als Instrument diente sei einmal dahingestellt, jedenfalls gab es eine offensive Interpretation des Dschihad. Gleichzeitig aber gab es stets eine starke Gegenposition, die den bewaffneten Dschihad als reinen Verteidigungskrieg bewerteten. Einer der wichtigsten Denker der defensiven Richtung war Sufyan ath-Thawri (716-778). Im Koran gibt es durchaus Verse, die Gewalt gegen Nicht-Muslime beinhalten. Im klassischen Islam gibt es aber hierfür eine „historische Methode“, das heißt, derartige Verse werden in der Interpretation in einen historischen Kontext gesetzt und als historisch abgeschlossene Ereignisse betrachtet. Diese Methode nennt man Offenbarungsanlässe (arab. asbab an-nuzul). Der Koran ist im klassischen Islam also kein „Befehlsbuch“.
Genau an diese defensive Tradition knüpft heute die Mehrheit der Gelehrten an. Seit über 200 Jahren dominiert die Interpretation des bewaffneten Dschihad als ein Verteidigungskrieg. Die sehr einflussreiche ägyptische al-Azhar Universität beispielsweise definierte den bewaffneten Dschihad als Vaterlandsverteidigung (arab. difa’ an al-watan) und bettete diesen so in einen nationalstaatlichen Kontext.
Im klassischen islamischen Recht ist der bewaffnete Dschihad nicht die Pflicht von allen Gläubigen, wie oft fälschlicherweise dargestellt. Er gilt nicht als Individualpflicht (arab. fard al-ayn) wie die fünf Säulen des Islam, sondern als Kollektivpflicht (arab. fard al-kifaya), das heißt einer ausgewählten Gruppe. Diese ausgewählte Gruppe ist die Armee des Staates. Zur Indiviualpflicht wird der bewaffnete Dschihad nur in ganz speziellen Fällen: In Gebieten die ständig überfallen oder in Städten die umzingelt und belagert werden.
Doch was machen nun der IS, al-Qaida und andere Extremisten?
Das 6-Säulen-Prinzip islamistischer Extremisten
Das Islam-Konzept der Extremisten von al-Qaida, IS und anderen unterscheidet sich fundamental von dem oben beschriebenen klassischen Islam, an den die absolute Mehrheit der Muslime sich immer orientiert hat. Der im klassischen Islam „kleinere Dschihad“ bekommt hier eine ganz andere Bedeutung, als er ihn über die Jahrhunderte betrachtet auf den Mainstream in der islamischen Welt je hatte.
Speziell geht dieses Konzept auf den ägyptischen radikal-islamistischen Theoretiker Muhammad Abd as-Salam Faradsch zurück. Dieser schrieb 1981 sein Werk Die abwesende Säule/Pflicht und spielte damit auf das klassisch-islamische 5-Säulen-Konzept an. Seiner Ansicht nach bestehe der Islam nicht aus fünf, sondern aus sechs Säulen. Diese „verlorene Säule“ sei der bewaffnete Dschihad und dazu nicht als Verteidigung, sondern offensiv. Um das dem herkömmlichen Islam einmal optisch gegenüber zu stellen:
Klassischer heute mehrheitlicher Islam | Konzept islamistischer Extremisten |
1. Bewaffneter Dschihad | |
1. Glaubensbekenntnis | 2. Glaubensbekenntnis |
2. Fünfmaliges Gebet | 3. Fünfmaliges Gebet |
3. Almosen | 4. Almosen |
4. Fasten während Ramadan | 5. Fasten während Ramadan |
5. Pilgerfahrt nach Mekka | 6. Pilgerfahrt nach Mekka |
Bei der Tabelle wird erkennbar, dass für al-Qaida, IS und andere gewaltbereite Extremisten eine Säule hinzutritt: der bewaffnete Dschihad als offensiver Krieg gegen alle ihrer Meinung nach Ungläubigen. Dabei steht der bewaffnete Kampf ganz bewusst an erster Stelle als erste Säule. Diese Säule überlagert die anderen, sodass die anderen fünf Säulen, die im herkömmlichen Islam den Kernbereich des Glaubens ausmachen, völlig in den Hintergrund treten. An die Stelle der historischen Kontextualisierung tritt eine Steinbruchexegese
Der Theoretiker Faradsch bricht dabei auch mit der islamischen Mehrheitsmeinung, dass der bewaffnete Dschihad nicht die Aufgabe jedes Gläubigen sei. Er macht in seinem Buch aus der oben beschriebenen Kollektivpflicht (fard al-kifaya) eine Individualpflicht (fard al-ayn), sagt also, dass jeder Muslim diesen Krieg führen muss. Jeder der diesen nicht führe, der sterbe zudem als Ungläubiger. Diesem Konzept haben insbesondere die sunnitischen Gelehrten der al-Azhar Universität in Kairo widersprochen.
Fazit: Der islamistische Extremismus steht im Widerspruch zum klassischen Islam
Betrachtet man die das 5-Säulen-Konzept der Mehrheitsmuslime im Gegensatz zum 6-Säulen-Konzept der Extremisten, so ist zwar der Satz „das hat alles nichts mit dem Islam zu tun“ augenscheinlich falsch, da auch bei den Extremisten die fünf Säulen immer noch Bestand haben. Doch treten diese in den Hintergrund und verlieren bei al-Qaida und dem IS in sofern an Bedeutung, als dass für sie der bewaffnete Dschihad der wichtigste Inhalt ihres Glaubens ist. Dazu tritt der bewaffnete Dschihad als offensive Pflicht jedes Gläubigen, was sowohl dem klassischen islamischen Recht als auch der modernen defensiven Interpretation massiv widerspricht. Das Islam-Konzept der Extremisten ist somit eindeutig eine Pervertierung des herkömmlichen Islams und dessen, was auch hierzulande die Mehrheit der Muslime praktiziert.
Als in Mali 2012 al-Qaida-Kämpfer in Timbuktu einrückten war eine ihrer großen Maßnahmen die Zerstörung großer Bestände der islamischen Bibliothek. Tausende uralte islamische Schriften gingen dabei verloren. Ähnlich in Mossul im Irak: Als der IS 2014 die Stadt eroberte wurden zahlreiche traditionelle Gelehrte und Imame ermordet. Warum? Weil die Inhalte von diesen Bibliotheken und die Grundsätze der Gelehrten und Imame dieser Ideologie grundsätzlich widersprechen und für diese daher eine Gefahr sind. Warum werden historische Artefakte wie im Irak erst jetzt, also 1400 Jahre nach der Entstehung des Islam, zerstört? Warum haben das nicht bereits die frühen Generationen der Muslime getan, die ja als die „edlen Altvorderen“ gelten? Sollten uns derartige historische Fakten nicht zu Denken geben?
Die großen muslimischen Gelehrten der Welt haben den Extremismus der al-Qaida damals in Ägypten genauso abgelehnt wie jetzt den vom IS. Man macht es sich zu einfach die Religion als solches für die Gewalt verantwortlich zu machen. Bei genauerem Hinsehen werden nämlich gravierende Unterschiede zwischen dem Glauben der Mehrheit und der Ideologie der Extremisten ganz deutlich erkennbar.
Quellen:
Kogelmann, Franz: Die Islamisten Ägyptens in der Regierungszeit von Anwar as-Sādāt, Berlin: Klaus Schwarz 1994
Rohe, Mathias: Das Islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, C.H.Beck: München 2011
Tyan, E.: Djihād, Encyclopaedia of Islam II, C-G, Brill: Leiden 1991
Van Ess, Josef: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Band I, Walter de Gruyter: Berlin 1991